Das Wasserkraftwerk Kiebingen
– nun Kulturdenkmal –
als Zeugnis der Elektrifizierung des Landes Baden Württemberg
Mehr hierzu auch unter Wikipedia: http://de.wikipedia.org/wiki/Wasserkraftwerk_Kiebingen und http://de.wikipedia.org/wiki/Industrialisierung_in_Rottenburg
80 Jahre Kraftwerk Kiebingen
Quelle Artikel in Bröschüre EVS (Energieversirgung Schwaben – heute EnBW) von 1983 – 80 Jahre Wasser-Kraftwerk-Kiebingen
Den Kiebingern, Rottenburgern, Herrenbergern und Tübingern, wie überhaupt den Leuten aus dem Gäu, ging das elektrische Licht früher auf als den meisten übrigen im Ländle. Zu danken war das dem Wasserkraftwerk Kiebingen am Neckar, nahe bei Rottenburg, das auch heute noch Strom liefert.
Kraftwerk Kiebingen Dieses kleine Kraftwerk feiert dieses Jahr seinen 80. Geburtstag. Es entstand 1903, als die Uhrenfabrik Junghans in Schramberg zur Versorgung ihrer Rottenburger Filiale ein Wasserkraftwerk baute. Die damals installierten Maschinen waren für eine elektrische Leistung von maximal 500 kW ausgelegt. Für die damaligen Verhältnisse war das ein großes Kraftwerk, und der dort erzeugte Strom ging weit über das hinaus, was in der Rottenburger Uhrenfabrik verbraucht werden konnte. So wurde der überschüssige Strom dem Gewerbe und der Landwirtschaft angeboten; zur Beseitigung der damaligen »Leutenot« sollte der Elektromotor eingesetzt werden, und natürlich stand der Strom auch für die elektrische Beleuchtung zur Verfügung.
Diesen Vorteil erkannten einige weitschauende Bürger, unter ihnen der damalige Landtagsabgeordnete Guoth, Gutsbesitzer auf Schloß Roseck, sowie der frühere Schultheiß von Unterjesingen, Wizemann. Ihrer lnitiative war es zu verdanken, daß am 25. September 1905 in Herrenberg eine Genossenschaft gegründet wurde, deren Aufgabe es war, den überschüssigen Strom der Firma Junghans zu kaufen und ihn über ein noch zu bauendes Leitungsnetz zu verteilen.
Dieses Unternehmen nannte sich »Elektrische Kraftübertragung für den Bereich Herrenberg und Umgebung eGmbH« mit Sitz in Unterjesingen. Unter den 50 Gründungsmitgliedern waren übrigens 26 schwäbische Schultheiße.
Bereits 1905 zählte man 900 Genossen, denn die Satzung sah zunächst vor, daß der elektrische Strom nur an Mitglieder der Genossenschaft abgegeben werden kann. Einige Zeit später gab man den Strom jedoch auch an Nichtmitglieder ab, sofern diese keine Privatpersonen, sondern Staat, Gemeinden oder auch Kirchengemeinden waren.
Gründungsmitglieder der EKH aus der Nachbarschaft von Kiebingen
Heinrich Guoth, Landtagsabgeordneter und Gutsbesitzer von Schloß Roseck
Schultheiß Wizemann, Unterjesingen
Schultheiß Reichert, Pfäffingen
Schultheiß Bürker, Kilchberg
Schultheiß Frey, Entringen
Schultheiß Müller, Wurmlingen
Schultheiß Schmid, Poltringen
Schultheiß Walz, Oberjesingen
Gustav Breuning, Altingen
Schultheiß Maurer, Breitenholz
Sägmüller Maisch, Poltringen
Müller Chr. Holz, Poltringen
Schultheiß Vetter, Reusten
Fr. Raith, Gemeinderat, Bühl
Schultheiß Baur, Hailfingen
Karl Braun, Landwirt, Weilheim
* insgesamt wurde die EKH von 50 Mitgliedern gegründet
In der Zeit von 1905 bis 1907 entstanden 150 km einer 15.000-Volt-Übertragungsleitung und dazu 56 Trafostationen. Von den abgehenden Fernleitungen speiste die eine die im Neckartal und im Heimbachtal liegenden Ortschaften. Die zweite Leitung führte nach Herrenberg und Rohrau, und der dritte Leitungsstrang versorgte die Ortschaften des unteren Ammertales und den Schönbuchrand. In einer weiteren Ausbaustufe wurde das Versorgungsgebiet bis dicht an den Stadtrand von Tübingen gebracht, das damals bereits ein eigenes städtisches Elektrizitätswerk besaß. Diese Ausdehnung brachte den Anschluß einer Gruppe von Gemeinden um Kusterdingen herum. 52000 Einwohner wurden jetzt mit Strom versorgt, das Zeitalter der Elektrifizierung im Gäu und der Umgebung hatte begonnen.
Inzwischen standen im Kiebinger Kraftwerk Modernisierungs- und Erweiterungsarbeiten an. Die Firma Junghans war nicht mehr gewillt, die dafür notwendigen Investitionen aufzubringen, hatte das Unternehmen doch schon bisher der jungen, aber damals stets finanziell etwas angespannten Elektrizitätsgenossenschaft mit Bürgschaften ausgeholfen. Schließlich übernahm die EKH im Jahre 1912 das Kiebinger Kraftwerk von Junghans und baute es weiter aus. In Kiebingen standen bald vier moderne Wasserturbinen, die zusammen eine elektrische Leistung von 1000 kW hatten, sowie eine Dampfturbine mit einer elektrischen Leistung von 750 kW. Um den dafür erforderlichen Dampf erzeugen zu können, wurde an der Nordwand des Wasserkraftwerkes ein Kesselhaus angebaut mit einem 36 m hohen Schornstein. Das Kesselhaus steht noch heute, der Schornstein allerdings wurde nach der Stillegung der Dampfturbine nach dem Zweiten Weltkrieg abgetragen.
Trotz dieses massiven Ausbaus der Kraftwerksleistung zeigte sich immer stärker, dass der Strom aus Kiebingen nicht ausreichen würde für das sich rasch entwickelnde Versorgungsgebiet der EKH. Mit dem benachbarten Gemeindeelektrizitätsverband Teinach, ebenso wie mit dem Elektrizitätswerk Glatten (Kraftwerk Bettenhausen) wurden Strombezugsverträge abgeschlossen, eine zufriedenstellende Absicherung brachte jedoch erst ein Bezugsvertrag mit dem damaligen Elektrizitätswerk Stuttgart (heute TWS). Der Anschluß an das Stuttgarter Netz geschah über eine Leitung nach Vaihingen. So war ein regionaler Verbund entstanden, bei dem sich die einzelnen Unternehmen gegenseitig Aushilfe und Reserve geben konnten.
Zu Beginn des Ersten Weltkrieges waren im Versorgungsgebiet bereits 3125 Elektromotoren und 32114 Glühlampen angeschlossen. Im Jahre 1923 wurde der Verbund zu Stuttgart verstärkt durch eine Leitungsverbindung von Sindelfingen nach Obertürkheim. Auf diese Weise standen der EKH zusätzliche 600 kW elektrische Leistung vom Dampfkraftwerk Stuttgart-Münster zur Verfügung.
Immer mehr trat die eigene Erzeugungsleistung des Kiebinger Neckarkraftwerks zurück. Im Jahre 1921 bezog die EKH bereits doppelt soviel Strom als man in Kiebingen erzeugen konnte, und zu Beginn der 40er Jahre kam nur noch ein Viertel des insgesamt im Versorgungsgebiet verbrauchten Stromes von dort. Zwar hatte man sich schon 1928 mit der Stadt Tübingen zusammengetan zwecks gemeinsamer Nutzung des Neckars und die »Kraftwerk Tübingen-Herrenberg GmbH» gegründet. Das neue Unternehmen nahm dann zwei Jahre später ein neues Kraftwerk in Tübingen in Betrieb, insgesamt waren jedoch die Ergebnisse wenig zufriedenstellend, da immer wieder Schwierigkeiten mit der zu geringen Wasserführung des Neckars auftauchten.
Die Elektrische Kraftübertragung Herrenberg war in der Zwischenzeit zu einer der größten Stromversorgungsgenossenschaften in Württemberg geworden. Damit war das Unternehmen freilich auch an die Grenzen seiner Möglichkeiten gelangt. Es standen umfangreiche Investitionen in die Netzanlagen bevor. Ein Ausbau der eigenen Kraftwerkskapazität schien angesichts der immer größeren Bedeutung der Strombezüge geboten. Dazu kam, dass das Unternehmen weder nach Norden noch nach Süden sein Versorgungsgebiet weiter ausdehnen konnte. Dies alles führte schließlich Ende 1941 zu dem Entschluß, die EKH in der größeren Energie-Versorgung Schwaben AG aufgehen zu lassen. Herrenberg, wohin die EKH längst ihren Verwaltungssitz verlegt hatte, wurde so in eine Betriebsverwaltung der EVS umgewandelt. Bis vor wenigen Jahren noch war das Versorgungsgebiet der Herrenberger EVS-Betriebsverwaltung (heuer EnBW Energie Baden-Würrtemberg AG [Unternehmens-Homepage]) ziemlich deckungsgleich mit dem früheren Versorgungsgebiet der Elektrischen Kraftübertragung Herrenberg eGmbH.
Das Wasserkraftwerk in Kiebingen erzeugt heute pro Jahr etwa 7,5 Millionen Kilowattstunden Strom. In Anbetracht eines Stromverbrauches im gesamten Bereich der EVS-Betriebsverwaltung Herrenberg von derzeit 2,5 Milliarden Kilowattstunden im Jahr hat Kiebingen freilich seine einstige zentrale Funktion längst verloren. Aus dem einstigen elektrischen Herzstück des Gäu ist ein Veteran geworden, ein Zeuge für ein Stück stolze und eigenständige Elektrizitätsgeschichte – von fortschrittlichen Bürgern damals begonnen.